Genetik und die Taubenzucht: Haben wir die
Aufklärung verpasst?
Genetik bei Tauben dreht sich in
wissenschaftlichen Veröffentlichungen heute fast ausschließlich um
Molekulargenetik. Dabei haben in der Taubenzucht die meisten
Liebhaber und Meinungsführer in der Organisation noch nicht die
klassische Mendelsche Lehre verinnerlicht. Diese beruht anschaulich
auf Vererbungsexperimenten. Auf dieser Grundlage wurde vor allem
durch Prof. W.F. Hollander und andere Wissenschaftler ein System in
das Zusammenwirken von Erbfaktoren gebracht. Wer sich einmal damit
vertraut gemacht hat, für den werden die zahlreichen Farbenschläge
in einigen Rassen nicht mehr wie eine unsystematische Auflistung und
ein Chaos erscheinen, das es zu verhindern gilt.
Als die Allgemeinen Ausstellungbestimmungen (AAB)
des Bundes Deutscher Rassegeflügelzüchter (BDRG) formuliert wurden,
war den Verantwortlichen sicherlich nicht klar, wie einfach in einer
Rasse Farbenschläge ohne Schaden miteinander verpaart werden können.
Auch nicht, dass einzelne Farbenschläge nicht isoliert nebeneinander
stehen, sondern als Teil einer Zuchtgruppe aufgefasst werden können.
Viele können sich auch heute noch nicht vorstellen, dass aus der
Verpaarung eines (rezessiv) gelben Täubers mit einer schwarzen
Täubin schon in der ersten Generation gut gefärbte dunfarbene
Täubinnen fallen und aus einem Rotfahlen mit einer Blaugehämmerten
in der ersten Generation sauber gefärbte Rotfahlgehämmerte (Abb. 1).
Abb. 1 und 2:
Zwischenfarbenschläge. Rotfahlgehämmert aus Rotfahl und
Blaugehämmert; Römer blaufahl mit Binden unter den Neuzüchtungen
Da es gelbe Römer gibt, werden automatisch in
der Zucht irgendwann Blaufahle erscheinen (Abb. 2). Warum sollten
diese noch jahrelang im Neuzüchtungsverfahren auf den Rassetyp
untersucht werden, wenn sie selbst aus Römern stammen? Dass es nicht
alles V- und Hv-Tiere sind, dürfte auch selbstverständlich sein und
gibt es auch in den anderen Kollektionen.
Wenn in sozialen Medien die Frage aufgeworfen
wird, warum ‚Zwischenfarbenschläge‘ innerhalb einer Rasse ein so
langes Anerkennungsverfahren durchlaufen müssen, dann kommt schnell
die Antwort, es gäbe bei der abnehmenden Anzahl von Züchtern ohnehin
schon zu viele Rassen und Farbenschläge. Man weiß bei einem solchen
Kommentar nicht, ob damit ein unangenehm werdendes Thema gewechselt
werden soll. Wahrscheinlich ist, dass der Kommentator tatsächlich
nicht weiß, dass das Kreuzen von Rassen und die Schaffung bzw.
Anerkennung neuer Rassen tierzüchterisch etwas völlig anderes ist.
Kreuzungen von Farbenschlägen sind keine Vermischung von Erbfaktoren
oder gar des Blutes, wie viele glauben. Der Sprachgebrauch aus alter
Zeit mit Blutlinie, Blutauffrischung etc. verführt zu einem solchen
Denken. Erbfaktoren können in neuen Genkombinationen zunächst
verdeckt werden. Sie können in späteren Generationen dennoch
unverfälscht wieder auftauchen. Wie in der Bildmontage der
blauhohligen Chinesentauben (Abb. 3), in denen ein blaubindiges Tier
mit einem blaugehämmerten Tier verpaart wird, wobei beide aus einem
blauhohligen Elternteil stammen.
Abb. 3: Punnettsches
Quadrat zur Verfolgung von Erbfaktoren über die Generationen. Quelle
der Abbildungen: Sell, Vererbung bei Tauben 2004, 2007.
Daneben, und zum „Üben“ nachgestellt, neben
blaubindigen und blaugehämmerten Tieren auch Blauhohlige in der
Nachzucht. Auch wer Mendel nicht traut, der kann es mit
molekulargenetischen Analysen der relevanten DNA-Abschnitte anhand
identischer Aminosäuresequenzen, wie sie im Stammbaum bei den
Vorfahren auftauchen, nachweisen.
Die für die AAB Verantwortlichen scheinen aus
dem verbesserten Kenntnisstand über die Vererbung noch nicht die
Notwendigkeit zu Änderungen von Verfahrensvorschriften abgeleitet zu
haben. Anders kann man sich die hohen Hürden für eine Anerkennung
und die langen, oft ergebnislosen Vorstellungsverfahren nicht
erklären. Auch nicht die Regel in der AAB, dass Farbenschläge
aberkannt werden können, wenn sie mehrere Jahre nicht auf
Bundesschauen oder der Hauptsonderschau gezeigt wurden. Wer nach
Aberkennung ein Interesse an einem traditionellen und in der Zucht
wieder aufgetauchten Farbenschlag findet, der kann sein Glück über
Jahre, manchmal Jahrzehnte erneut im Neuzüchtungsverfahren
versuchen.
Von anderen Gegnern jeglicher Veränderung kommt
die Antwort, man solle doch erst die Hauptfarbenschläge zur
Perfektion züchten, bevor man Neues zulässt. Wer so argumentiert,
hat die Mechanismen des Wettbewerbs im Ausstellungswesen nicht
begriffen. Perfektion kann es im System nicht geben. Wenn der
Standard von einer ‚zu großen‘ Anzahl von Tieren erreicht wird, kann
er seinen Zweck der Auswahl und Belohnung weniger Spitzentiere nicht
mehr erfüllen. Neue Zuchtschwierigkeiten müssen dazu kommen, an
denen sich die Züchter im Wettbewerb messen. Die daraus folgende
Entwicklung vieler Rassen über die Zeit ist hier für Strasser
nachgestellt.
Abb. 4:
Veränderungen der Strasser über ein Jahrhundert nach verschiedenen
Quellen
Man bekommt es aber auch in vielen
Rassemonographien veranschaulicht, wie hier am Beispiel der
Broschüre von Jonnie L. Blaine mit dem Wandel der Standardbilder für
die Englischen Long Faced Tümmler.
Abb. 5 und 6:
Englischer Long Faced (Bärtchen) um 1905 von A.J. Simpson; Zeichnung
eines 1908 ausgestellten ‚Mottles‘. Quelle: Blaine 1978
Abb. 7 und Abb. 8:
J.W. Ludlows Zeichnung des idealen Kopfes, die vom Long Faced
Tumbler Club am 14. April 1910 angenommen wurde, und die Broschüre
von Jonnie Blaine mit einer Standardzeichnung von John Mahaffay, die
als neues Ideal vom Pacific Tumbler Club akzeptiert wurde.
Source: Blaine 1978.
Kenntnisse in der Genetik wären nicht nur für
die Zuchtplanung, sondern auch für die Reputation der
Rassegeflügelzucht gut. Denn aus der gleichen Ahnungslosigkeit und
mangelnden Aufklärung über Erbgänge sind in den sozialen Medien
viele Berichte aus den Zuchten und unpassende ‚Likes‘ zu erklären.
So, wenn jemand ein Zuchtpaar mit zwei Sprenkeln oder mit zwei
Dominant Opal zeigt, die wegen der genetischen Defekte bei einem
Teil der Nachkommen aus tierschutzrelevanten Gründen nicht verpaart
werden sollten, und die Mitglieder der Gruppe dazu Beifall spenden.
Auch angesichts der schwierigen Lage des Hobbys
und des Mitgliederschwundes ist kaum nachzuvollziehen, dass der BDRG
kreative Züchter und Freunde seltener Farbenschläge vor den Kopf
stößt und nicht einzubinden versucht. Sie werden den Versuch der
Lenkung auf andere Rassen und Farbenschläge eher als Anmaßung
empfinden als der Aufforderung folgen.
Große Tierzahlen auf den Bundesschauen
verstellen vielleicht den Blick auf das Abbröckeln auf lokaler
Ebene, so dass man glaubt, sich den Luxus der Ausgrenzung leisten zu
können. Das Bild trügt: Im Vergleich zu früher scheint ein höherer
Anteil der (weniger werdenden) Züchter Bundesschauen zu beschicken,
und dann mit höheren Tierzahlen pro Züchter. Systematische
Untersuchungen dazu gibt es nicht. Ein Blick in alte Kataloge deutet
es aber an. Waren es im Januar 1975 in München z.B. ca. 6,5 Tiere
pro Aussteller, so waren es im Januar 2019 in Kassel über 14 Tiere.
Vielleicht sollte einmal ein Meeting der Rassegeflügelzucht unter
die Frage gestellt werden, was der Einzelne aus seiner Beschäftigung
mit Rassegeflügel eigentlich erwartet. Vielleicht zumindest eine
Chance, sich und anderen bewusst zu machen, dass es nicht nur die
eigene Sicht der Dinge gibt. Es muss nicht gleich Empathie daraus
erwachsen, etwas mehr Verständnis und Toleranz wären auch schon
etwas.
Literatur:
Blaine, Jonnie L., The
English Long Faced Tumbler “Update 1978”, Whittier, California 1978.
Domyan, Eric T., Michael D.
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takes flight: evolution, development, and genetics of intraspecific
variation, Dev Biol. 2017 Jul 15: 427(2): 241-250.
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5521274/
Giesecke, Otto, „Die Strassertaube als Form-
und Nutztaube“, Die Taubenwelt Nummer 11, 3. Jg. 1. November 1953,
S. 161-162.
Gradert, Hansjörg, Strassertauben und
Voraussetzungen für die Zucht aller schweren Rassetauben, Kükelün
2000.
Hollander, W.F., Origin and
Excursion in Pigeon Genetics, Burrton 1983.
Kühschelm, Leonhard,
"Von der Nutztaube zur Ziertaube: Der Strasser". In: Freude mit der
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18–19, Oktober 2017, S. 20–21.
Lavalle, Alfred und Max Lietze (Hrsg.),
Die Taubenrassen. Ein ausführliches Handbuch über Zucht, Haltung und
Pflege der Tauben, Fritz Pfenningstorff. Verlag für Sport und
Naturliebhaberei, Berlin o.J. (1905).
Rublack, Erich, Strassertauben. Herkunft,
Haltung, Zucht, Oertel & Spörer Reutlingen 1982.
Sell, Axel und Jana, Vererbung bei Tauben,
Oertel & Spörer Reutlingen 2004, 2007.
Sell, Axel, Pigeon Genetics.
Applied Genetics in the Domestic Pigeon, Achim 2012.
Siekmeier, Karl, Die Strassertaube. Geschichte,
Beschreibung, Zucht und Bewertung, Oertel & Spörer Reutlingen ohne
Jahr (1964).
Spruijt, C.A.M.,
Raskenmerken van alle in Europa Algemeen erkende Duivenrassen.
Gouda N.V. Johan
Mulder’s Uitgevers-MIJ 1948.
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