Überschwingigkeit bei
Tauben
Koen Joris (B) und Axel
Sell (D)
Immer wieder einmal wird von Züchtern die Meinung vertreten, dass
Tauben mit 11 Schwingen der ersten Ordnung Vorteile im Wettflug
gegenüber Tauben mit 10 Schwingen hätten. So zuletzt in einem
Schlagbericht in der Nr. 44 der 'Brieftaube' von 2016. Über die
genetischen Grundlagen wurde lange nur spekuliert. In dem vielleicht
bekanntesten Taubenbuch der Welt, 'The Pigeon' von Wendell M. Levi,
wird ein dominanter Erbgang angenommen. Vielleicht deshalb, weil aus
solchen Tieren gelegentlich wieder einige überschwingige Jungtiere
gezogen worden waren. Für Züchter, die das Merkmal in ihrem Bestand
entweder vermehren oder auch lieber herausbekommen wollen, werden
die dargestellten Ergebnisse einer aktuellen Untersuchung von
Interesse sein.
Abb. 1:
Elfschwinger bei einer Brieftaube (Foto: Koen Joris)
Dominant oder rezessiv? Das ist bei unbekannten Erscheinungen oft
die erste Frage. Wenn es sich bei einem dominanten Merkmal um ein
mischerbiges Tier handelt, dann sollten daraus 50% der Jungtiere mit
einseitig oder beidseitig mehr als 10 Schwingen fallen. Wenn nur 5
oder 6 Jungtiere aus einem solchen Paar ohne vermehrte Schwingen
gezogen werden, dann könnte das auf den Zufall zurückgeführt werden.
Wenn 1 oder 2 mit mehr Schwingen darunter sind, dann wird man sich
in seiner Erwartung bestätigt fühlen. Das gleiche Ergebnis ist aber
auch bei einem rezessiven Merkmal zu erwarten. Wenn ein Tier mit
einem rezessiven Merkmal mit einem anderen ohne den betreffenden
Faktor im Erbgut gepaart wird, dann wird man keine Jungtiere mit dem
Merkmal ziehen. Wenn es zufällig mit einem (rezessiven) Träger des
Gens verpaart wird, dann zeigen 50% der Nachkommen das Merkmal. Für
ein rezessives Merkmal spricht, dass gelegentlich ein 11-Schwinger
auch in Beständen anfällt, in denen die anderen Tiere nur die
normalen 10 Schwingen (Wild-Typ) besitzen.
Koen Joris ging wohl als erster der Erscheinung mit umfangreichen
Testpaarungen nach. Er hatte in seinem Bestand einen 11-Schwinger
eingeführt, der selber nur 10-Schwinger nachzog. In den
Folgegenerationen und nach Zuführung weiterer Elfschwinger aus
anderen Schlägen waren ein- und zweiseitige Elfschwinger keine
Seltenheit mehr im Bestand. Aus 24 Paaren von Überschwingigen mit
Normalschwingigen wurden schließlich für Testzwecke bei 143
Jungtieren 35 Überschwingige (24%) gezogen. Bei einem dominanten
Merkmal hätten es 50% sein sollen. Bei dieser großen Zahl kann die
Abweichung nicht mehr auf Zufall zurückgeführt werden. Die These der
Dominanz bei Levi konnte damit als widerlegt betrachtet werden.
Geschlechtsgebundenheit kann nach den in Tab. 1 gegebenen gleichen
Ergebnissen bei wechselseitiger Verpaarung ausgeschlossen werden.
|
Paare |
Jungtiere |
Überschwingige |
Prozent |
1,0 Überschwingiger x 0,1 Wild-Typ |
17 |
109 |
27 |
25 |
1,0 Wild-Typ x 0,1 Überschwinge |
7 |
34 |
8 |
24 |
Gesamt |
24 |
143 |
35 |
24 |
Tab. 1: Überschwingige x Wild-Typ und vice versa
Eine Widerlegung für die These eines rezessives Merkmals ist es noch
nicht. Denn man konnte nicht davon ausgehen, dass alle der als
Testpartner verwendeten 10-Schwinger die Anlage für
Überschwingigkeit rezessiv besessen hatten. Weniger als 50% waren
bei einem rezessiven Merkmal daher zu erwarten. Die These konnte
aber durch die nachfolgende Testreihe ausgeschlossen werden. 13
Paare von Überschwingigen miteinander verpaart brachten bei 71
Jungtieren 22 (31%) Normalschwingige. Bei einem einfachen rezessiven
Erbgang hätte es keines sein sollen. Auffallend war darüber hinaus,
dass 7 der Paare nur Überschwingige zogen, andere dagegen mit 59%
einen deutlich höheren Anteil von Normalschwingigen.
|
Paare |
Jungtiere |
Wild-Typ |
Prozent |
Überschwingige x Überschwingige Gruppe 1 |
7 |
34 |
0 |
0 |
Überschwingige x Überschwingige Gruppe 2 |
6 |
37 |
22 |
59 |
Gesamt |
13 |
71 |
22 |
31 |
Tab. 2: Überschwingige x Überschwingige
Der
Test wurde ergänzt durch nachfolgende Paarungen von Überschwingigen
aus den in Tab. 2 aufgeführten Paarungen untereinander oder in
Kombinationen mit Überschwingigen aus der Vorgeneration (Tab. 3).
|
Paare |
Jungtiere |
Wild-Typ |
Prozent |
Überschwingige F1 x Überschwingige F1 |
3 |
22 |
3 |
14 |
1,0 Überschwingige F1 x 0,1 Überschwingige |
2 |
14 |
8 |
57 |
1,0 Überschwingige x 0,1 Überschwingige F1 |
4 |
32 |
6 |
19 |
Gesamt |
9 |
68 |
17 |
25 |
Tab. 3: Überschwingige verschiedener Herkunft untereinander
Auch aus diesen Paarungen fielen mit 25% Normalschwingigen mehr als
einer spontanen Abweichung hätten zugeordnet werden können.
Die
Ergebnisse in Tab. 2 für die beiden unterschiedenen Gruppen deutete
auf eine unterschiedliche Genausstattung der Paare hin. Ein Teil der
Tiere mit dem Merkmal schien für einen oder einige Erbfaktoren nur
mischerbig zu sein. Es mußten daher über die einfach mendelnden
Erbanlagen hinaus Erklärungen gesucht werden. So versucht man z.B.
in der Humangenetik, komplexere Erscheinungen durch die Vorstellung
der Interaktion mehrerer Gene besser zu verstehen. Bestimmte Gene
können sich in diesen Modellen nur dann auswirken, wenn an einem
oder an mehreren anderen Genorten bestimmte Gene vorhanden sind.
Sind sie nicht vorhanden, bleibt das Merkmal verdeckt, man spricht
von epistatischen Beziehungen (Cordell, 2002).
Im
Anschluss an die Untersuchungen im Brieftaubenbestand wurden in
Einzelpaarhaltung Tests durch Verpaarungen von überschwingigen
Brieftauben mit Gimpeltauben durchgeführt. Es waren Gimpeltauben aus
einem Bestand, in dem Überschwingige bisher nicht beobachtet wurden.
So bestand die erste Generation aus Normalschwingigen.
Von
den 130 Jungtieren der 2. Generation aus drei Paaren über mehrere
Jahre waren 8 (6,2%) Überschwingige.
Paare |
Jungtiere |
Überschwingige |
Prozentsatz |
Nr. 1 |
48 |
2 |
4,2% |
Nr. 2 |
48 |
3 |
6,3% |
Nr. 3 |
34 |
3 |
8,8% |
Summe |
130 |
8 |
6,2% |
Tabelle 4: F2
aus Gimpeltaubenkreuzungen
Schließlich wurde
eine Rückpaarung der ersten Generation an überschwingige Brieftauben
vorgenommen. Aus 5 Paaren wurden bei 60 Jungtieren 12 (20%)
Überschwingige gezogen. Aus allen Paaren wurde zumindest ein
überschwingiges Jungtier gezogen. Die Prozentsätze waren aber
unterschiedlich.
Paare |
Jungtiere |
Überschwingige |
Prozentsatz |
Nr. 1 |
27 |
2 |
7,4 |
Nr. 2 |
8 |
2 |
25,0 |
Nr. 3 |
10 |
1 |
10,0 |
Nr. 4 |
8 |
6 |
75,0 |
Nr. 5 |
7 |
1 |
14,3 |
Summe |
60 |
12 |
20,0 |
Tabelle 5:
Rückpaarung der F1 aus überschwingigen Brieftauben x
Gimpeltaube an überschwingige Brieftauben
Abb. 2:
Überschwingiges Jungtier aus der Rückpaarung an Überschwingige
(Foto: Koen Joris)
Wenn von der Vorstellung der epistatischen Beziehungen ausgegangen
wird, dann lassen sich die Ergebnisse nach statistischen
Testmethoden am besten durch ein Zusammenwirken von drei Faktoren
erklären. Für die Ausprägung der Überschwingigkeit scheint es zu
genügen, wenn einer der Faktoren nur mischerbig vorhanden ist.
Mehr Einblick wird man mit Fortschritten der Molekulargenetik
vielleicht einmal auf andere Weise gewinnen. Es ist schwer
vorzustellen, wenn es auch wünschenswert wäre, dass sich jemand die
Mühe macht, mit konventionellen Paarungen die Beobachtungsbasis zu
vergrößern. Für die praktische Zucht bedeuten die Ergebnisse, dass
es durch Selektion leicht möglich sein wird. das Merkmal der
Überschwingigkeit im Bestand zu verankern und auch rein zu züchten.
Die Einführung eines 10-Schwingers bedeutet für eine solche
Zielsetzung allerdings einen empfindlichen Rückschlag. Umgekehrt
sollten Züchter, die dieses Merkmal dauerhaft aus ihrem Stamm
verdrängen wollen, keine Überschwingige in der Zucht einsetzen. Die
direkte Nachzucht wird das Merkmal nicht haben, es wird in
Folgegenerationen aber wieder auftreten.
Literatur:
Cordell, Heather J., Epistasis: what it means, what it doesn't mean,
and statistical methods to detect it in humans, Human Molecular
Genetics, 2002, Vol. 11, No. 20, S. 2463-2468.
Joris,
Koen und Axel Sell, Überschwingigkeit bei Haustauben,
RÖK Freude mit
Kleintierzucht, Januar 2017, S. 8-11.
Levi,
Wendell M., The Pigeon, 1. ed. 1941, reprinted with changes and
additions 1963, reprinted 1969, Levi Publishing Company, Sumter.
Sell, Axel, Brieftauben und ihre Verwandten, Achim 2014.
Sell, Axel,
Pigeon Genetics, Applied Genetics in the Domestic Pigeon, Achim
2012. |