Die Entdeckung der Geschlechtsgebundenheit
bei Tauben: An Schmetterlingen lernen
1908 wies Doncaster erstmals bei Tieren
experimentell das Konzept der geschlechtsgebundenen Vererbung nach,
und zwar an zwei Varietäten des Stachelbeer-Spanners (Abraxas
Lacticolor und Abraxas Grossulariata, 2016 Schmetterling des
Jahres). Dieser Schmetterling besitzt das WZ/ZZ-Geschlechtschromosom-System,
so dass aus der Verbindung eines männlichen aufgehellten ‚Lacticolor‘
mit ZZ-Chromosomenausstattung mit einer weiblichen dunkleren ‚Grossulariata‘
mit WZ-Ausstattung, und damit einem kürzeren W-Chromosom, nur
weibliche ‚Lacticolor‘ und männliche ‚Grossulariata‘ fallen.
Abb. 1: Kreuzung eines
♂ Abraxas
Lacticolor und einer
♀ Abraxas
Grossulariata bei Doncaster 1908, zitiert als Ausschnitt aus Crew
(1927).
Taubenzüchter werden sich kaum für den
Stachelbeer-Spanner interessieren. Das Wissen um diesen
Erbmechanismus mag aber dazu beigetragen haben, dass kurz darauf
die Auflösung für einige bis dahin rätselhafte Beobachtungen bei
Haustauben gefunden wurden. So, warum aus blauen Taubenpaaren
gelegentlich silberne Jungtiere fallen, und dass es sich dabei
ausschließlich um Weibchen handelt. Das hatte schon Darwin 1868 in
einer Fußnote im Kapitel V ‚Tauben‘ beschäftigt, ohne dass er eine
Antwort fand. Bonhote und Smalley zeigten 1911, dass es eine der
Auswirkungen dieses beim Schmetterling beobachteten Erbganges ist.
Cole 1912 erweiterte die Betrachtung fast zeitgleich um das
Verhältnis von schwarzen zu dunfarbenen und von roten zu gelben
Tauben. Eine Beobachtung von weitreichender Bedeutung? Nicht nur
durch die Nutzung eines bei einer Tierart gefundenen Erbmechanismus
für die Erklärung von Erscheinungen bei einer anderen. Bei Tauben
erwies sich das Schema als nützlich für die Erklärung von
Ergebnissen in der Zucht bei Erbfaktoren wie Aschrot, Braun, Stipper,
Rubella, Reduced, letale Schwimmfüßigkeit u.a. Für Reduced ist in
Abb. 2 exemplarisch parallel zur Abb. 1 die Auswirkung der
Geschlechtsgebundenheit bei der Verpaarung eines für Reduced
reinerbigen Täubers mit einer nicht das Gen tragenden Täubin
nachgestellt.
Abb. 2: Reinerbiger reduced
Täuber x schwarze, nicht den Faktor tragende Täubin und daraus
fallende F1, reducedfarbene Täubinnen und schwarze
Täuber. Quelle: Sell, Genetik der Taubenfärbungen, Achim 2015
Mit der ‚Mechanik‘ der Weitergabe
geschlechtsgebundener Gene und den für die Zucht wichtigen
Ergebnissen kann man sich sehr schnell vertraut machen. Mit etwas
Übung und geistiger Beweglichkeit kann ein Züchter die Aussagen von
Abb. 1 und Abb. 2 unschwer auf andere Kombinationen übertragen: Ein
blauer Täuber wird mit einer rotfahlen Täubin blaue Täubinnen und
für die Farbe spalterbige rotfahle Täuber ziehen. Wir ersetzen im
Schaubild Reduced durch Blau und Schwarz durch Rotfahl. Aus einem
blaufahlen Täuber und einer blauen Täubin erhält man blaufahle
Täubinnen. Die blau erscheinenden Täuber tragen verdeckt den die
Verminderung der Farbpigmente auslösenden rezessiven
‚Verdünnungsfaktor‘. Ein gelber Täuber und eine rote Täubin ergeben
gelbe Täubinnen und für die Verdünnung spalterbige rote Täuber.
Kombinationen von Farbe, Verdünnung und anderen geschlechtsgebundene
Faktoren lassen sich mit etwas Übung einbauen. Wenn man das Schema
einmal verstanden hat, dann kann man es auch auf die umgekehrte
Verpaarung übertragen, auf die Vererbung spalterbiger Täuber und auf
die Weitergabe der Gene über die Generationen hinweg. Dass Reduced
rezessiv geschlechtsgebunden vererbt wird, wurde übrigens mit Carl
Graefe durch einen genetisch bewanderten Taubenzüchter aufgedeckt,
Frosty durch Andreas Leiß, dem es neben der Taubengenetik vor allem
die Stadttauben angetan hatten.
http://www.taubensell.de/reduced_ein_erbfaktor_geht_um_die_Welt.htm
Bei den Stippervarianten wie bei Faded
(Kennfarbigkeit), Qualmond, Frosty und anderen Faktoren kommen
teilweise noch Besonderheiten durch einen farblichen
Geschlechtsdimorphismus dazu, wodurch man bei Reinzucht im Stamm
Täuber und Täubinnen an der Färbung erkennen kann. Ein
Vererbungsschema, viele Anwendungen und damit ein potentiell
wichtiges Element für eine effiziente Zuchtplanung. Denn es geht
nicht nur um Erklärung. Man kann die Erkenntnis für eine
systematische Zucht einsetzen, was am einfachsten mit Hilfe des
Punnettschen Quadrats als didaktisches Hilfsmitteln gezeigt werden
kann (u.a. Sell 2012, 2019). Der Jungtäuber auf dem Buchcover in
Abb. 3 verdankt sein Aussehen dem Zusammenwirken gleich zweier
geschlechtsgebundener rezessiver Faktoren, er ist reinerbig Rubella
und auch reinerbig Frosty, das Paar daneben auch rein für beide
Faktoren. Bei Reinzucht ein geschlechtsdimorpher Stamm, allerdings
mit stärkerer Aufhellung als bei Frosty allein. Das führt in eine
weitere spannende Betrachtungsebene ein.
http://www.taubensell.de/reduced_a_gene_wanders_around_the_world.htm
Abb. 3: Reinerbiger Täuber für die beiden auf
dem Geschlechtschromosom liegenden Erbfaktoren Frosty und Rubella
bei schwarzer Grundfarbe und gehämmerter Zeichnung auf dem
Buchcover. Rechts ein Paar reiner Frosty-Rubella
www.taubensell.de
Literatur:
Bonhote, J.L., und F.W.
Smalley (1911), On the Colour and Colour Pattern inheritance in
pigeons, Zoölogical Societey of London, Proceedings, pp. 601-619 (zitiert
nach Levi 1969)
Cole, L.J. (1912), A case of
sex-linked inheritance in the domestic pigeon. Science 36.
Crew, F.A.E. (1927), The
Genetics of Sexuality in Animals, Cambridge at the University Press.
Darwin, Charles (1868),
Animals and Plants Under Domestication, Chapter V Pigeons, London.
Doncaster, L. (1908), On sex
inheritance in the moth, Abraxas grossulariata. 4th Rep.
Evol. Comm., Roy. Soc. London (zitiert nach Crew 1927).
Levi, W.M. (1969), The
Pigeon, first edition 1941, Sumter.
Sell, Axel (2012), Pigeon
Genetics. Applied Genetics in the Domestic Pigeon, Achim.
Sell, Axel (2015), Genetik der Taubenfärbungen,
Achim.
Sell, Axel (2019), Taubenzucht, Möglichkeiten
und Grenzen züchterischer Gestaltung, Achim.
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