Molekulargenetische Untersuchungen zu Verwandtschaften von
Haustaubenrassen und zur Federhaube der Haustaube
Genomic Diversity and Evolution of the Head Crest in
the Domestic Pigeon (see below)
Nachdem eine internationale Forschergruppe unter Federführung der
Universität Utah bereits im Vorjahr eine größere molekulargenetische
Untersuchung über die Abstammungsverhältnisse von Haustaubenrassen
verfasst hatte (Sydney A. Stringham u.a.
http://www.taubensell.de/molekulargenetische_studie_von_haustauben.htm),
ist im Januar 2013 bereits eine Folgestudie erschienen: Michael D. Shapiro
u.a., "Genomic Diversity and Evolution of the Head Crest in the Rock
Pigeon", Scienceexpress reports 31 January 2013.
http://www.sciencemag.org/content/339/6123/1063
Bestätigt wurde die schon im Vorjahr aufgezeigte Beziehung zwischen
Brieftauben und verwilderten Haustaubenpopulationen, die wesentlich auf
nicht heimgekehrte Brieftauben zurückzuführen sind. Die Autoren glauben
auch Hinweise auf die Herkunft größerer Rassegruppen aus dem Mittleren
Osten gefunden zu haben.
Ursprungsland von Pfautauben und Mövchen
So zeigten Pfautauben, die in Indien seit mehr als 2000 Jahren gehalten
würden, eine große Gemeinsamkeit in der molekulargenetischen Untersuchung
mit Shakhsharli-Tauben, mit Tümmlern aus dem Iran und mit Lahore, die im
Iran als Sherazi bekannt sind. Die Autoren vermuten, dass die Vorfahren
oder ein Teil der Ahnen der Pfautauben auf alten Handelsrouten nach Indien
gelangt sind. Auch wiesen die untersuchten Mövchenrassen große
Gemeinsamkeiten mit Rassen aus dem östlichen und südlichen
Mittelmeergebiet auf, so dass die Heimat in Kleinasien und Nordafrika zu
suchen wäre (Supplement S. 11). Das ist zwar keine neue Erkenntnis,
bestätigt aber interessanterweise die Schlussfolgerungen von Christian
Reichenbachs im Band 1 der von Erich Müller herausgegebenen Reihe "Alles
über Rassetauben" (S. 20-61). Ganz so unbekannt, wie die Autoren
einleitend vermuten, ist die regionale Herkunft vieler alter Rassen doch
nicht.

Abb. 1: Titelseite und Verbreitungskarte der Haustaubenrassen von "Alles
über Rassetauben", herausgegeben von Erich Müller 2000, ISBN 3-88627-601-5
(Cover of the book 'Alles über Rassetauben' and map of the diffusion of
breeds by Christian Reichenbach)
Ein gemeinsamer Erbfaktor für die Federhaube
Ein besonderes Augenmerk legten die Autoren auf ein altes Merkmal bei
vielen Taubenrassen, der Federhaube oder gleichbedeutend Kappe. Diese
kommt in unterschiedlichen Formen vor. Unterschieden wird vor allem die
Spitzkappe und die Rundkappe, die in unterschiedlicher Höhe im Ansatz, in
der Federfülle und in unterschiedlichem seitlichen Abschluss, mit Rosetten
oder nicht (Querhaube), vorkommt.

Abb. 2: Unterschiedliche Haubenformen, different kinds of crests (Sell,
Pigeon Genetics, Achim 2012)
Die Untersuchungen bei 69 kappigen Tauben aus 22 Rassen und 95
glattköpfigen Tauben aus 57 Rassen weisen darauf hin, dass kappige Tauben
zumindest ein Gen gemeinsam haben, in der molekulargenetischen Symbolik
das EphB2-Gen (Ephrin receptor B2). Wenn es vorhanden ist, zeigen die
Tiere aufrecht stehende Federn, wenn nicht, dann waren sie glattköpfig.
Und das gilt nach der Untersuchung gleichermaßen für alle Typen der
Hauben. Gene, die für die unterschiedlichen Formen verantwortlich sind,
könnten danach den Charakter von modifizierenden Genen haben, die auf der
Grundlage des EphB2-Gens wirksam werden. Die Autoren vermuten dann auch
die Existenz weiterer modifizierender Gene, die für die Unterschiede
verantwortlich sein. Die Grundform scheint aber schon für sich
Auswirkungen auf die Haubenbildung zu haben, denn bei Tieren ohne Haube
haben die Autoren offenbar das Gen nicht nachweisen können. Möglicherweise
bestehen genetische Koppelungen zwischen dem identifizierten EphB2-Gen und
den Modifikatoren. Mit der These mehrerer unabhängiger Faktoren, die
gleichzeitig wirksam sein müssen, läßt sich der in Tests festgestellte
hohe Anteil kappiger Tiere in der F2 und der Rückpaarungen nur
schwer erklären (vgl. zu Daten Sell, Pigeon Genetics, 2012).
Aus der Tatsache, dass alle untersuchten Tieren mit einer Kappe das Gen
besaßen und alle anderen nicht, schlussfolgern die Autoren, dass die
Mutation nur einmal, und zwar in der Frühphase der Haustierwerdung
aufgetreten ist und durch Taubenzüchter auf die einzelnen Taubenrassen
übertragen wurde (Stringham
u.a. 2013). Das ist plausibel, denn kappige Tauben haben schon früh das
Interesse der Taubenzüchter geweckt. So besitzen z.B. 5 der 13 bei Marcus
zum Lamm um 1600 abgebildeten Tauben eine Haube. Auf der Tafel 8 bei
Aldovandi aus der gleichen Zeit sind es 7 von 12. Am häufigsten war wohl
die Spitzkappe. Dafür zeigt eine der bei Gessner bereits 1555 abgebildeten
zwei Haustauben eine Querhaube.
Interessant war auch die Randbeobachtung, dass bei einem überraschend in
einem Stamm von Show Racern gefallenen kappigen Tier beide Eltern in der
molekulargenetischen Analyse als spalterbig für das Gen identifiziert
werden konnten.
Die Ahnen der Brieftauben
Für die Brieftauben wird die Einschätzung der letzten Studie bestätigt,
dass sie aus Cumulets, Mövchen, Carriern und anderen Rassen vor annähernd
200 Jahren geschaffen worden sind.
Im Hinblick auf den Carrier als Ahnen ist anzumerken, dass schon Selby
1835/1843 und Fulton 1876 darauf hingewiesen haben, dass der Englische
Carrier nie als Botentaube gedient hat. Für Selby waren die zu seiner Zeit
unter dem Namen Carrier bei Liebhabern beliebten Tauben noch identisch mit
einer nach äußerlichen Merkmalen ausgelesenen Türkischen Taube. Er hatte
als Botentaube die von Boitard und Corbié beschriebenen Flugtauben im
Sinn, vielleicht ähnlich, wie sie als Carrier bei Willughy 1676 gezeigt
wurden (Abb. 3 links).
 
Abb. 3: Carrier nach Willugby 1676, Türkische Tauben und damit identisch
der damalige Carrier bei Selby 1835/1843, junge Carriertäubin aus heutiger
Zeit, und Türkische Taube um 1880 aus dem Naturhistorischen Museum
Braunschweig, von links nach rechts. Carrier at a table in Willughby 1676,
Turkish Pigeon and identical at that time the fancy Carrier at a table in
Selby 1837/1843, modern young Carrier hen and a Turkish Pigeon about 1880
in the Brunswick Natural Historical Museum (Quelle: Axel Sell,
Taubenrassen, Achim 2012).
Dass der Englische Carrier und die Brieftauben mit der Türkischen Tauben
einen gemeinsamen Ahnen haben, bedeutet nicht, dass die Brieftaube vom
Carrier abstammt. Der Mensch verwahrt sich schließlich auch nicht nur aus
Eitelkeit davor, dass Evolutionstheoretiker zur Unterstellung kommen, der
Mensch stamme vom Affen, weil es in der langen Entwicklungsgeschichte
gemeinsame Ahnen gegeben hat (und sich das menschliche Erbgut nur zu 1,37%
von dem des Schimpansen und zu 1,75% vom Gorilla unterscheidet).
http://www.sueddeutsche.de/wissen/affen-genom-entschluesselt-der-gorilla-im-menschen-1.1303382
Verwandtschaften von Tauben und Genanalyse
Bei Untersuchungen zur Verwandtschaft zwischen Taubenrassen sollte man
generell vorsichtig sein. In der Taubenzucht wird sehr viel mit anderen
Rassen gekreuzt. Es wird bei Tauben wahrscheinlich mehr gekreuzt als bei
Hühnern und anderen Haustieren. Einzelne Stämme der Tauben bei Rassen
dürften sich abhängig von unterschiedlichen Einkreuzungen daher auch
genetisch unterscheiden. Ein einzelnes Tier steht daher nicht unbedingt
für die gesamte Rasse.
Seltene Rassen gehen oft verloren und werden neu erzüchtet, oft, ohne dass
dieses der breiteren Öffentlichkeit bekannt wird. So waren z.B. Belgische
Ringschläger, Speelderke und der Horsemankröpfer zeitweise ausgestorben
und wurden aus anderen Rassen neu geschaffen. Man kann daher von aktuellen
molekulargenetischen Ergebnissen nicht unbedingt auf die genetische
Ausstattung dieser Rassen zu einer anderen Zeit schließen.
Es ist auch vielen Biologen nicht bewusst, dass sich bei Kreuzungen
äußerlich unterschiedlicher Rassen in einigen Fällen ein Rassetyp bereits
in der ersten Generation so stark durchsetzt, dass Laien Probleme damit
haben, die Kreuzungsergebnisse von der reinen Rasse zu unterscheiden. Bei
der Rückkreuzung an die reine Rasse hat auch der Experte seine Probleme
und ist bei einigen der Nachzuchttiere auf Mutmaßungen angewiesen. Auch
bei der Auswahl von Tieren für Untersuchungen ist daher Vorsicht
angebracht.
Genomic Diversity and Evolution of the Head Crest in the Domestic Pigeon
"Genomic Diversity and Evolution of the Head Crest in the Rock Pigeon" is
a second report of a moleculargenetic research project organized by the
University Utah (Scienceexpress reports 31 January 2013, Michael D.
Shapiro et. al):
http://www.sciencemag.org/content/339/6123/1063
In this second greater molecular genetic study of the domestic pigeon the
authors found evidence for the probable geographical origins of some
domestic breeds. Thus the fantail that has been bred in India for at last
2000 years shows a close genetic association with the Shakhsharli, with
Iranian tumblers, and Lahore, in Iran known as Sherazi. The authors
conclude that fantails might have been imported from Iran and Turan in
central Asia via ancient trade routes. Owls are closely related to three
ancient breeds from the eastern and southern Mediterranean region and they
conclude that the breeds origin in Asia Minor and Northeast Africa (supplement
p. 11). Both these findings are not entirely new and in line with the
conclusions from Christian Reichenbach about the origin of breeds in the
Volume 1 "Alles über Rassetauben" (All About Fancy Pigeon Breeds) edited
by Erich Müller, see Figure 1.
The authors also identified the gene EphB2 as a strong candidate for the
head crest of numerous breeds. That gene is identical for the different
types of crest like peak crest (usually symbolized cr) and shell crest (symbolized
by Christie and Wriedt ru = Rundkappe). The different kinds of crests (see
Figure 2) are assumed to follow from different modifiers.
For the ancestor of the modern racing homer the authors confirm the
conclusion from their first study: the racing homer is assumed to have
been derived from the cumulet, owls, carrier and other breeds
approximately 200 years ago. However, from old sources about the
development of breeds and especially the racing homer we know that this is
only partial right. For the role of the carrier we should remember that
still Selby (1835/1843) and Fulton (1876) gave their opinion that the
carrier never served as a messenger and the name is improperly applied and
should be better used for the messenger described by Boitard and Corbié
1824, perhaps similar to the Carrier shown at a table in the work from
Willughby 1676 (see Figure 3 at the left). The fact that the English
Carrier and the Racing Homer with the Turkish Pigeon have a common
ancestor does not mean that the racer can be traced back to the English
Carrier. To use an analogy. From the fact that humans, chimpanzees and
gorillas have some ancestry in common and are about 98 percent identical
at a genetic level we do not conclude that menkind is derived from the
chimps or gorillas.
http://www.livescience.com/18892-gorillas-humans-gene-sequence.html
Literatur:
Fulton, R., The Illustrated Book of Pigeons. London, Paris, New York and
Melbourne 1876.
http://www.taubensell.de/molekulargenetische_studie_von_haustauben.htm
Reichenbach, Christian, Domestikation und Rassenbildung, in: Erich Müller
(Hrsg.), Alles über Rassetauben, Bd. 1 - Entwicklung, Haltung, Pflege,
Vererbung und Zucht, Reutlingen 2000, S. 20-61.
Selby, P.J., The Naturalist’s Library, edited by Sir W. Jardine, Bart.,
Vol. XIX.
Ornithology. Pigeons, Edinburgh 1843, (preface 1835).
Sell, Axel, Pigeon Genetics, Achim 2012.
Sell, Axel, Taubenrassen. Entstehung, Herkunft, Verwandtschaften.
Faszination Tauben durch die Jahrhunderte, Achim 2009.
Shapiro, Michael d., Genomic Diversity and Evolution of the Head Crest in
the Rock Pigeon", Scienceexpress reports 31 January 2013.
Stringham et al., Divergence, Convergence, and the Ancestry of Feral
Populations in the Domestic Rock Pigeons, Currently Biology (2012), doi:
10.1016/j.cub.2011.12.045.
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