Carrier und Horseman: Fact und Fakes in frühen Schriften
Falsche Aussagen werden mitunter auch in der Taubenliteratur über
Jahrhunderte bis heute weitergegeben und als Wahrheiten genommen.
Oft irrtümlich ins Leben gesetzt. Manchmal auch bewusst, um die
eigene Rasse im Ansehen zu steigern oder eigene Leistungen oder die
von Züchtern der Region zu überhöhen.
Der Carrier bei Willughby und der Schau-Carrier bei Moore
Nicht nur an der Flugfähigkeit, auch am Phänotyp ist erkennbar, dass
der Englischen Carrier, den Moore 1735 als König der Tauben preist,
nicht der von Willughby 1676/78 beschriebene Carrier des Türkischen
Reiches war. Die Botentaube des Türkischen Reiches hatte die Größe
einer gewöhnlichen Taube oder etwas darunter. Moores Carrier nach
seinen Angaben dagegen größer als die meisten Rassen. Mit 20 Ounces
(etwa 567 g) knapp das doppelte Gewicht. Länge von der
Schnabelspitze bis zum Schwanzende 15 Inch (38,1 cm) statt 34-35 cm.
Schnabellänge bei der Brieftaube moderat (etwa 23 mm von der
Schnabelspitze zum Schnabelwinkel), beim Englische Carrier nach
Moore 38 mm, wohl von der Spitze bis zum Auge (S. 25ff.). Damit etwa
30 mm von der Spitze zum Mundwinkel. Augenränder und Schnabelwarze
beim Carrier Willughbys stärker entwickelt als bei der gewöhnlichen
Taube, bei Moore in der Beschreibung extrem ausgeprägt.
Die Abbildung des Carriers bei Willughby ist kein realistisches Bild
der Botentaube des Türkischen Reiches. Die Nutzung einer solche
Abbildung macht eher die Probleme deutlich, die Autoren zu der Zeit
mit einer angemessenen Bebilderung ihrer Texte hatten. Darüber hat
John Gray, der das Werk von Willughby posthum herausgab, in der
Einführung ausführlich berichtet. Aber auch wenn die Botentaube
eher wie die 1763 bei Frisch und 1837 bei Neumeister abgebildeten
Türkischen Tauben ausgesehen hätte, bleibt die Frage, wie aus
solchen Tauben in 50-60 Jahren in Größe, Gewicht, Schnabel-,
Gesichts-, Hals- und Beinlänge derart veränderte Tauben wie in der
Treatise 1765 werden konnten? Durch Reinzucht sicher nicht, auch
wenn dieser Eindruck von Moore bezweckt zu sein scheint.
 
Türkische Taube bei Frisch 1763 und Neumeister 1837
 
Carrier in der Treatise 1765 und bei Tegetmeier 1868
Suggestionen von Moore
Moore erweckt schon mit seinem unvermittelt schnellen Übergang von
der Beschreibung seines Carriers als König der Tauben zur
Darstellung der Leistungen von Botentauben in der Antike den
Eindruck, dass genau diese Taube der legitime Nachkomme der antiken
Botentaube sei (S. 28). Nur ihm stehe der Name ‚Carrier‘ und dessen
Legende zu. Er sei inzwischen durch Hochzucht nur zu wertvoll für
den Botendienst. Dass seine Erzählung nicht stichhaltig ist, gibt er
indirekt selber zu, wenn er sich um eine klare Aussage zum Horseman
herumwindet. So nennt er die zu seiner Zeit bevorzugte Botentaube in
England (S. 31). Er wüsste nicht, ob es eine eigene Rasse sei oder
eine Kreuzung, „we shan’t take upon us to determine such
Controversies as these“. Rhetorisch nicht ungeschickt, denn beide
vorgegebenen Antworten mussten den Leser in die Irre führen. Als
erfahrener Taubenzüchter wird er gewusst haben, dass beides falsch
war. Es war keine neue Rasse und auch keine Kreuzung. Die Tauben
waren offenkundig die im Türkischen Reich genutzten Botentauben,
die Willughby ‚Carrier‘ getauft hatte und nun umbenannt wurden.
Indirekt gesteht er das ein. Denn er berichtet, dass gleiche Tauben
mit denselben Fähigkeiten aus Scanderoon nach England gekommen
seien. Seine Erkenntnis hätte sein müssen, dass es dort dieselben
Carrier wie zur Zeit von Willughby gab. Durch die Umbenennung des
ursprünglichen Carriers in „Horseman“ konnte die Flunkerei von
seinem Carrier als uralte Botentaube erfolgreich verdeckt werden.
Der Carrier aus Scanderoon
Scanderoon, zeitweise Alexandretta und jetzt Iskenderun, ist der
Hafen, von dem aus Englische Kaufleute aus Aleppo eine Taubenpost
unterhielten, um über ankommende Schiffe unterrichtet zu werden.
Darüber hatte Henry Teonge in seinem Schiffstagebuch 1675-1679
berichtete. Er hatte als Schiffkaplan Fahrten der Königlichen Navi
von London in die Levante, und auch nach Scanderoon, begleitet. Die
Tauben würden die Strecke von 60 Meilen (etwa 100 km) in weniger als
drei Stunden bewältigen. Naheliegend anzunehmen, dass diese Tauben
die Carrier Willughby’s waren, die man u.a. in den Königlichen
Volieren im St. James’s Park sehen konnte.

Historisch Flugroute der Botentauben zwischen dem Hafen Scanderoon (Alexandretta,
Iskenderun) und der Niederlassung Englischer Kaufleute in Aleppo;
Scanderoon von Peter Paillou (England c. 1720 - c. 1790), 1745.
Das Bild eines ‚Scanderoon‘ bzw. ‚Horseman‘ von Peter Paillou 1745
ist erst jüngst zugänglich geworden. Handsigniert auf der Rückseite
mit Scanderoon, erfasst im Beitext als Horseman. Fast zu schön, um
kein Fake zu sein! Ein hochstehender Brieftaubentyp mit starker
Oberschnabelbewarzung, wie es alte Täuber in einigen Stämmen
zeigen. Scanderoon und Horseman im Begleittext zurecht
gleichgesetzt. Willughby nennt die Namen nicht. Wenn die Carrier
in den königlichen Volieren auch aus Scanderoon stammten, wovon aus
den historischen Beziehungen Englands mit Scanderoon auszugehen
ist, dann sind sein Carrier, der Horseman und der gezeigte
Scanderoon herkunfts- und rassegleich.

Französische Bagdette rotfahl und einjähriger Carrier blau auf einer
deutschen Taubenschau. Die Ähnlichkeit in Figur und Haltung
bestätigt die Bezeichnung des Englischen Carriers als „Englische
gradschnäblige Bagdette“ in Neumeister/Prütz 1876. Quelle: Sell,
Taubenrassen 2009.
Der Name Light-Horseman, bei Willughby eine Kreuzung von Carrier (=Horseman)
und Kröpfer, ist wahrscheinlich eine Referenz auf die ‚leichte
Kavallerie‘. Eine Analogie wegen des beweglichen und agilen
Verhaltens. In der französischen Literatur spricht man bei
identischen oder ähnlichen Paarungen vom Cavalier.
Spekulationen zum Wandel vom Scanderoon zum Schau-Carrier
Eine mögliche Erklärung für den Wandel der Rasse zur Zeit Moores
gibt Lyell 1881. In Calcutta in Indien hatte er Tauben vorgefunden,
die sich vom Englischen Carrier seiner Zeit nicht unterschieden und
ursprünglich aus Bagdad stammten. Importe solcher Tiere könnten in
England die vorher eher unscheinbaren Carrier um 1700 in der Gunst
der Liebhaber verdrängt oder aufgebessert haben. Eine neue Rasse,
für die man einen werbenden Namen und eine werbende Legende suchte.
Diese könnte Moore gestrickt haben.
Eine zweite Möglichkeit nennt Brent (3. Auflage 1871, S. 24).
Kreuzung vorhandenen Warzentauben (wie die Türkische Taube bei
Neumeister, dem bei Willughby beschriebenen Carrier oder ‚Scanderoon‘,
oder auch Barbary-Pigeons bei Manetti) mit großformatigen Bagdetten,
die es auf dem nahen Kontinent gab. Van Vollenhoven aus Utrecht
widmet den Bagdetten 1686 einige Strophen in seiner in Versform
verfassten Schrift. Zwar keine starke Bewarzung des Schnabels,
dafür aber stärker entwickelte Augenringe. Die Schenkel seien knapp
befiedert, sie seien kurz und rund im Körper und ‚wacker auf den
Beinen‘. Der Hals gleiche dem eines Schwanes. Jacobus Victors hatte
1672 ein solches Tier gezeichnet.
Es spricht vieles dafür, dass die Version von Brent zutrifft. Die
Kombination von Warzentaube und Bagdettenfigur im Englischen
Carrier ist eine züchterische Leistung. Das Ergebnis aber ein
Kreuzungsprodukt, statt ein König von edlem Geblüt. Und damit auch
nicht die ‚uralte Botentaube Vorderasiens und Nordafrikas‘, wie man
im Standard des BDRG bis heute nachlesen kann.
Literatur:
Brent, B.P., The Pigeon Book. Containing the Description and
Classification of all the known Varieties of the Domestic Pigeons,
third edition London (1871).
Frisch, Johann Leonhard, Vorstellung der Vögel in Deutschlands und
beyläuffig auch einiger fremden, mit ihren Farben…Die Zehnte Klasse,
die Arten der Wilden, Fremden und Zahmen oder Gemeinen Tauben,
Berlin 1763.
Lyell, J.C., Fancy Pigeons, London 1881, 3rd ed. London
1887.
Moore, J.,
Pigeon-House. Being an Introduction to Natural History of Tame
Pigeons. Columbarium: or the pigeon house, Printed for J. Wilford,
London 1735.
Sell, A., Taubenzucht. Möglichkeiten und Grenzen züchterischer
Gestaltung 2019
Sell, A., Verständnis und Missverständnisse in der Taubenzucht, Teil
VII, Achim 2023. S 38-43.
https://www.taubensell.de/011_Neu_Archiv/standards_von_rassetauben.htm
Tegetmeier, W.B., Pigeons: their structure, varieties, habits
and management, London 1868.
Teonge, Henry, The Diary of Henry Teonge. Chaplain on Board H.M.’s
Ships Assistance, Bristol, and Royal Oak 1675-1679, ed. by Sir E.
Denison Ross and Eileen Power in the Broadway Travellers. First
published in this Series 1927.
Willughby, Francis,
The Ornithology in Three Books. Translated into English, and
enlarged with many Additions throughout the whole work by John Ray,
Fellow of the Royal Society, London 1678.
Annex: Willughby 1678 und Moore 1735


Willughby 1678

Moore 1735, S. 31.
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