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Möglichkeiten und Grenzen züchterischer Gestaltung

Kunst, Visionen und züchterische Möglichkeiten

„Möglichkeiten und Grenzen züchterischer Gestaltung“, so der Untertitel des Buches ‚Taubenzucht‘ von 2019. Künstler haben es einfacher als Züchter. Sie können frei von genetischen Gesetzmäßigkeiten ihren Visionen folgen und sich von den Vorlagen lösen. Die Inspiration für das ausdrucksstarke Bild der Pommerschen schaukappigen Tümmler von Jan Hatzmann erhielt dieser offenkundig von einem im durch Wittig 1925 herausgegebenen Sammelband. Wunderbar werden die Eleganz der Tauben und das Spiel des Lichtes, ähnlich wie im Foto, eingefangen. Realistisch betrachtet sind Federfülle und Sitz der Haube allerdings übersteigert.

Abb. 1: Pommersche Schaukappen in einem Ölgemälde von Jan Hatzmann

In diesem Fall kann man sich auch die bei anderen Kunstwerken oft geführte Diskussion sparen, es müsse sie ja so gegeben haben, wenn sie der Künstler so dargestellt habe. Das oft sogar in alter Literatur mit dem Hinweis, nach der Natur gemalt. In der Einzeldarstellung der Tiere vom selben Züchter wird es noch deutlicher. Ausgeprägte Augenschirme, die Federhaube mit Federfülle, aber sehr tief ansetzend und die Schädeldecke nicht überragend.

  

Abb. 2: Pommersche schaukappige Hochflieger aus der Zucht Hauenstein in Kolberg, abgebildet im Sammelband von Wittig 1925, wieder abgedruckt in Sell, Pommersche Taubenrassen, Achim 2010.

Züchter kennen die Probleme. Wenn die Haube sehr hoch angesetzt ist, verschwindet irgendwann einmal die gewünschte Rosette. Wenn die Federfülle zunimmt und damit auch die Länge der Haubenfedern, dann erscheint auch das Nackengefieder fülliger und die Eleganz der Halsführung geht verloren.

Die quantitative Dimension qualitativer Gene

Für die schaukappigen Hochflieger (Pommersche Schaukappen) hat der Verfasser die Zusammenhänge vor Jahrzehnten empirisch untersucht und verschiedentlich dokumentiert. Die Messungen und Analysen bezogen sich auf seinen Bestand 1978 mit einer Haubenhöhe und Ausprägung in dem Bereich, wie sie in Abb. 3 zeichnerisch für die Pommerschen Schaukappen für 4 Charakteristika angedeutet ist. Gemessen wurden die Länge und Breite der Augenschirme, die Höhe des Kappenansatzes und die Länge der Haubenfedern bei 70 Alttieren (35 Paare) und 140 Jungtieren aus 31 dieser Paare.

Abb. 3: Kopfstruktur bei Pommerschen Schaukappen (Quelle: Sell, Taubenzucht, Achim 2019, dort Abb. 112).

Hauben, Schnabelnelken und ähnliches werden meist als qualitative Gene betrachtet, sie sind vorhanden oder nicht. Dass sie eine quantitative Dimension haben, zeigt sich auch in dieser Stichprobe. Trotz Größenunterschieden zwischen den Geschlechtern, die auch im Gewicht zum Ausdruck kommen, sind die Unterschiede bei den Federstrukturen in den Mittelwerten gering. Die Spannbreite war bei den Täubern allerdings weiter als bei den Weibchen, wie für die gemessene Federlänge der Haube in Abb. 4 links deutlich wird.

  

Abb. 4: Federlänge der Haube nach Geschlecht in cm für 35 Altpaare (70 Tiere) aus der damaligen Zucht des Verfassers, blau ; Zusammenhang von Schirmlänge und –breite für 70 Alttauben, Daten durch Überlappung komprimiert

Die quantitative Dimension des ‚qualitativen‘ Merkmals der Augenschirme zeigt sich auch bei diesen, wobei in der Grafik (Abb. 4 rechts) der positive Zusammenhang  zwischen Breite und Länge bei den einzelnen Tieren zum Ausdruck kommt (statistisch ein Korrelationskoeffizient von 79%). Dieser positive Zusammenhang von Breite und Länge bestand auch zwischen Merkmalen der Augenschirme und Haubenhöhe, war aber nicht so streng.

Diese quantitativen Unterschiede zwischen den Tieren bei den einzelnen Merkmalen sind nach den durchgeführten Analysen von Elterntieren und Nachzucht auch erblich. Die einzelnen Merkmale könnten damit durch Selektion über die Generationen leicht gesteigert werden, wenn man dafür andere rassetypische Merkmale vernachlässigt.

Geglückte und weniger geglückte Darstellungen

Kappenhöhe und Fülle sind in einer Zeichnung von Witzmann realistischer als in der Vision bei Jan Hatzmann. Die Vision eines eleganten Tümmlers mit schlankem Hals und dennoch attraktiver Federfülle ist allerdings verloren.  Die Leichtigkeit und Eleganz der Tauben ist hin. Figur, Kopfform und Schnabeleinbau sind die einer Feld- oder Nutztaube. Anzumerken auch der handwerkliche Fehler, dass die Blaue bei einem hellen Schnabel (Rauch- oder Smoky-Blau) im Schwanz eine weißrandige Ortfeder hat. Die gibt es genetisch bei Smoky-Blau nicht.

Abb. 5: Kunstdruckbeilage Pommersche Schaukappen von Carl Witzmann

Wohin eine einseitige Zucht auf ausgeprägte Augenschirme und Kappenfülle führen kann, wird durch Abb. 6 links deutlich. Eingefangen und angedeutet wird die Eleganz dagegen im Foto von Ingolf Jungnickel, das er auf einer Schau in Hamburg 1985 von den Tieren des Bruders des Verfassers gemacht hat (Abb. 6 rechts).

 

Abb. 6: Pommersche Schaukappe mit großer Federfülle, aber deutlichen Mängeln in der Eleganz (links); Pommersche Schaukappe Rauch- oder Smoky-Blau und Weiß von Joachim Sell auf einem Foto von Ingolf Jungnickel (Quelle für diese Bilder: Sell, Pommersche Taubenrassen, Achim 2010).

Exemplarität der Untersuchung

Bei weltweit vielleicht zwanzig Züchtern der Rasse ist der Aufwand für eine solche Untersuchung übertrieben. Es bestand aber die letztlich nicht erfüllte Hoffnung, dass andere motiviert werden könnten, bei anderen Rassen ähnliche Fragestellung aufzugreifen. In mancher Hinsicht ist die Untersuchung allerdings aufschlussreich für das Verständnis der Entwicklungen und eine Auseinanderentwicklung bei anderen Rassen. Der Standard hat Federfülle der Haube und deutlich erkennbaren Augenschirmen Forderungen, die dem Wunsch nach einer hoch sitzenden Haube und einem schlanken Hals entgegenlaufen. Durch die Tradition geprägt waren die Züchter in diesem Fall bestrebt, züchterisch die Balance zwischen den Wünschen zu halten. Wenn sich Preisrichter oder eine Zuchtgemeinschaft bei anderen Rassen allerdings bei ähnlich genetisch instabilen Situationen dafür entscheiden, einem von mehreren Wünschen den absoluten Vorrang zu geben, dann wird sich die Rasse schnell wandeln. Schnell, denn es ist einfacher, extreme Forderungen, wie möglichst klein, möglichst groß, eine möglichst hohe Kappe, die größtmöglichen Federstrukturen etc. zu beschreiben und zu kommunizieren, als einer Balance das Wort zu reden.

Nönnchen:

Das Deutsche Nönnchen entspricht in Feinheit und Eleganz noch weitgehend dem Typ, den Eaton 1858 abgebildet hatte. Eine Ausrichtung auf Kappenfülle und Verzicht auf schlanke Halsführung und Rosette als Haubenabschluss führte zu einer auch optisch anderen Rasse, den Englischen Nonnen mit anderen Zuchtschwerpunkten. Durch die Federfülle zeigen einzelne Tiere der Englischen Nonnen über den Augen gelegentlich auch eine Art von Augenschirmen, die genetisch andere Ursachen als bei den Pommerschen Schaukappen haben könnten.

Abb. 7: Historische Nönnchen bei Eaton 1858, Deutsche Nönnchen und Englische Nonne (Quelle: Sell, Pigeon Genetics, Achim 2012)

Römer – Runts:

Runts sind eine in den USA vorkommende Rasse, die wie die Römer zu den Riesentauben zählen und ähnliche Vorfahren haben. Im Standard von 1979 wird ein großer Vorkörper gefordert, im Vergleich zum Standardbild der Zeit hat sich die Rasse durch einseitige Betonung dieser Forderung im Typ in wenigen Jahrzehnten enorm gewandelt und unterscheidet sich noch stärker vom europäischen Römer als davor.

Abb. 8: Giant Runt aus dem Book of Pigeon Standards 1979 und Giant Runt von 2006 aus dem Buch ‚Pigeon Genetics, Achim 2012, Foto: Layne Gardner

Roller:

Hoch bewertete Orientalische Roller zeichnen sich in vielen Ländern durch eine schlanke Halsführung aus. In den USA wird im Standardbild der UORA-Roller mit einem starken Hals propagiert, möglicherweise auch der Start für eine neue Rasse. Der Unterschied des Orientalischen Rollers zu dem UORA-Roller der USA ist nach dem Standardbild (Abb. 9) schon größer als der Abstand des Orientalischen Rollers zum Sarajevo-Roller (Abb. 10).

                                                        

Abb. 9: Orientalischer Roller gelb Leipzig 2018 Vorzüglich und Musterbild eines UORA-Rollers nach US-Standard

Abb. 10: Orientalischer Roller silber schwarz gesprenkelt und Sarajevo-Roller weiß dungesprenkelt auf einer Europaschau (Quelle: Sell, Taubenzucht. Möglichkeiten und Grenzen züchterischer Gestaltung, Achim 2019)

Literatur:

Eaton, John Matthews, Treatise on the Art of Breeding and Managing Tame, Domesticated, Foreign and Fancy Pigeons, London 1858.

National Pigeon Assn., Book of Pigeon Standards. Revised 1979.

Sell, Axel, Pigeon Genetics. Applied Genetics in the Domestic Pigeon, Achim 2012.

Sell, Axel, Taubenzucht. Möglichkeiten und Grenzen züchterischer Gestaltung, Achim 2019.

Sell, Axel, Pommersche Taubenrassen. Pigeon Breeds from Pomerania, Achim 2009.

Wittig, Otto (Hrsg.), Muster-Taubenbuch, Berlin 1925.