Brieftauben und ihre Verwandten / Racing Homers and their
Relatives
(english Version below)
Wer sich über die
Entstehungsgeschichte von Taubenrassen informieren will, der wird
sehr schnell feststellen, dass es viele unklare und widersprüchliche
Darstellungen gibt. Wer sich etwas genauer mit der Materie befasst,
der wird auch sehen, dass viele Aussagen selbst bei namhaften
Autoren und in hoch geschätzten historischen Quellen unzutreffend
sind. Das gilt auch für die Belgische Brieftaube, die heute weltweit
als Brieftaube schlechthin wahrgenommen wird. Eine der wesentlichen
Aufgaben des Buches "Brieftauben und ihre Verwandten" ist es, die
Entstehungsgeschichte der Belgischen Brieftaube nachzuzeichnen und
die Verwandtschaftsbeziehungen zu den Brieftaubenartigen zu
dokumentieren. Das Buch gibt einen Einblick in die
Leistungsfähigkeit und das Erscheinungsbild der modernen Brieftaube.
Es gibt darüber hinaus einen Überblick über die
Brieftaubenverwandten und die Anforderungen in den Standards.
Sell, Axel, Brieftauben und ihre
Verwandten, Achim 2014, ISBN 978-3-9812920-4-6, 128 S., €19,90
portofrei
Bei der Brieftaube
tragen einige Chronisten mehr zur Verwirrung als zur Aufklärung bei.
Das gilt auch für Quellen, die einem gewöhnlich ans Herz gelegt
werden, wenn man sich speziell für die Geschichte der Brieftauben
interessiert. So berichtet
Baldamus (1878, S. 255) zutreffend,
wohl in Anlehnung an Fulton
(1876), dass in England und auch in Deutschland 'Unkundige' den
Carrier seines Namens wegen für die eigentliche Brieftaube gehalten
hätten. "Keine Taubenrasse dürfte aber weniger als diese nur für die
Ausstellung gezüchtete, hochfeine Vollbluttaube zum Fliegen
geeignet, bei keiner auch der Orientierungs- und Heimathsinn so
wenig ausgebildet sein". Das hält ihn aber nicht davon ab, bei der
Darstellung des Englischen Carriers, den er mißverständlich
obendrein 'Die Englische Bagdette' nennt, zu schreiben: "Die Taube
wurde früher jedenfalls als Brieftaube benutzt" (S. 290). Für den
eiligen Leser ist es dann nur folgerichtig, wenn bei Fotomontagen
der Abstammung der Brieftaube ein hochklassiger Englischer Carrier
in der Ahnengallerie auftaucht. Diesen Fauxpas findet man selbst bei
den sonst sehr sorgfältigen Autoren
Spruijt (1964, S. 55)
und Dorn (1953, S. 28).
Selbst in der deutschen Musterbeschreibung der Tauben kann man beim
Carrier nachlesen, dass er eine 'uralte Botentaube' darstelle. Das
mag werbend klingen, ist sachlich aber falsch. Der bei
Willughby 1678
beschriebene Carrier mit einer moderaten Bewarzung und gewöhnlichen
Größe war eine andere Taube als der Engliche Carrier. Der erste hat
nach Willughby in der Türkei als Botentaube gedient und dürfte einer
der Ahnen der Brieftaube sein, nicht aber der durch Selektion auf
Bewarzung und durch Kreuzungen mit Bagdetten erzüchtete hochstehende
und langschnäblige Englische Ausstellungs-Carrier.
Wenn
Baldamus den in der
Nähe von Lüttich geborenen Arzt
Chapuis mit seiner
Monographie über die Belgische Brieftaube aus dem Jahr 1865 nicht
nur zitiert, sondern auch sorgfältig gelesen hätte, dann hätte er
wohl auch nicht geschrieben, dass bei der Lütticher Brieftaube das
Gefieder weniger zum Dauerfluge geeignet sei (S. 259). Denn es waren
diese Lütticher Tauben, die den Ruf der Belgischen Brieftaube
begründeten und schon ab 1810 Flüge aus Paris und Lyon mit einer
Entfernung von 300 bzw. 530 km meisterten und in den 1860er Jahren
Flüge über 1000 km aus St. Sebastien in Spanien und Rom
absolvierten. Das geht nicht nur aus den Angaben bei
Chapuis hervor,
sondern auch aus anderen glaubwürdigen Quellen, die nicht der oft
weniger seriösen Taubenzüchterszene entstammen.
Weitstreckenflüge mit Lütticher Tauben
von St. Sebastien 1862 und von Rom 1868, eigene Darstellung auf der
Grundlage des Peters Atlas (1990); entnommen: Sell, Brieftauben und
ihre Verwandten, Achim 2014, S. 41.
Bungartz nimmt in
seinem in Leipzig erschienenen Buch 'Der Brieftaubensport' von 1889
direkt Bezug auf Baldamus.
Nach seinen Ausführungen gebührt dem Carrier unstreitig "das
Verdienst, eine der ältesten, wenn nicht die älteste Botentaube zu
sein" (S. 26). Wenn das Wort 'Carrier' die Funktion einer Taube als
Überbringer von Nachrichten meint, dann ist die Aussage eine
Tautologie. Wenn Bungartz
sie aber in den Zusammenhang mit dem Englischen Carrier bringt, dann
muss man einwenden, dass der Carrier nicht gleichzeitig die größte
taubenzüchterischen Leistung der Engländer in der Neuzeit und die
Botentaube der Antike darstellen kann.
Der Hinweis von
Baldamus auf das
angeblich weniger für Dauerflüge geeignete Gefieder der Lütticher
Brieftaube wird übernommen (S. 36). Bei der Beschreibung der
Lütticher Brieftaube wird
Bungartz aber auch originell: "Des kurzen Schnabels wegen
sind die Lütticher Brieftauben wie alle kurzschnäbligen Tauben
schlechte Fütterer und man thut gut, die Jungen durch Ammen,
langschnäblige Tauben, wie Antwerpener, Feldflüchter etc. aufziehen
zu lassen" (S. 36 wörtlich in zum Teil veralteter Schreibweise). So
kurz wie hier angenommen waren die Schnäbel der Lütticher nicht.
Soweit in anderen Quellen die Frage der Jungtieraufzucht überhaupt
angesprochen wird, so wird die außergewöhnliche Wirtschaftlichkeit
und die große Anzahl an Jungtieren hervorgehoben.
Tegetmeier berichtet
in seiner Brieftaubenmonographie sogar darüber, dass er Smerle,
Smerle als die von den Engländern meist übernommenen flämischen
Bezeichnung der Lütticher Brieftaube, als Ammentauben für andere
Rassen genutzt habe (Tegetmeier
1871, S. 77).
Ein Problem dieser
und vergleichbarer Literatur liegt darin, dass sich wahre und
falsche Aussagen mischen und
Bungartz darüber hinaus ein begnadeter Tiermaler war, so dass
sein Buch durch die schönen Bilder eine besondere Anziehungskraft
und Autorität besitzt. Der 'Unkundige', den
Baldamus auch schon
bemüht hatte, vermag kaum zu unterscheiden, was nun richtig und was
falsch ist. Es ist daher schon fast fahrlässig, 'Unkundige' auf
diese Literatur zu verweisen. Es scheint nach diesem Einblick in die
traditionelle Brieftaubenliteratur nicht müßig zu sein, sich erneut
und mit einer kritischen Perspektive der Frage der Entstehung der
modernen Brieftaube zuzuwenden.
Literatur:
Baldamus, August Carl Eduard, Die
Tauben und das übrige Ziergeflügel, Dresden 1878.
Bungartz, J., Der Brieftaubensport,
Leipzig 1889.
Chapuis, F., Le pigeon voyageur Belge,
Verviers 1865.
Dorn, Friedrich Karl, Flugsport mit
Reisetauben, Erster Band Rasse und Zucht, Berlin 1953.
Fulton, R., The
Illustrated Book of Pigeons. London, Paris, New York and Melbourne
1876.
Sell, Axel, Brieftauben und ihre
Verwandten. Entstehung, Flugleistung, Standards und Bewertung, Achim
2014.
Sell, Axel, Pigeon
Genetics. Applied Genetics in the Domestic Pigeon, Achim 2012.
Sell, Axel, Taubenrassen. Herkunft,
Entstehung, Verwandtschaften. Faszination Tauben durch die
Jahrhunderte, Achim 2009.
Spruijt, C.A.M., De Postduif van A - Z.
S-Gravenhage (Netherland) 1950, 4th ed. 1964.
Tegetmeier, W.B.,
The homing or carrier Pigeon, London 1871.
Willughby, Francis, The
Ornithology in Three Books. Translated into English, and enlarged
with many Additions throughout the whole work by John Ray, Fellow
of the Royal Society, London 1678.
Inhaltsverzeichnis:
Racing Homers and their
Relatives
The new book 'Brieftauben
und ihre Verwandten' discusses in German language the performance
and properties of the modern racing homer and related fancy breeds.
One aim of the book is to show the evolvement of the Belgian Racing
Homer during the 19th century. Though the Belgian Racing Homer is a
rather new creation compared to other breeds there are nebulous
beliefs and wrong information even in the recent literature. Such
faulty information may be traced back to wrong statements of
influential authors of the past that are uncritical repeated. Wrong
statements concern e.g. the role of the English Carrier that is
often considered an ancestor of the racing homer. As was still
argued by the famous English writers like Selby, Tegetmeier and
Fulton the English Carriers never served as a homing pigeon but are
purely fancy varieties and bred up to an artificial standard of
properties and are worthless as homing birds. Although e.g. Baldamus
(1878), one of the influential German writers, seems to agree with
this opinion, he nevertheless presents several unclear formulations
and also the statement that the English carrier in former times was
a homing pigeon.
Thus it is not a
surprise that in several photo compositions of the ancestry of the
Belgian Racing Homer the English carrier is shown as a prominent
contributor (e.g. Spruijt 1964, Dorn 1953). Baldamus give us his
believe that the Liege Homer due to a weak feathering is not useful
for long distances though from other serious sources it is well know
that the Liege breed was the first strain in Belgian that managed
great distances. About 1810 contests from Paris (about 300 km) and
Lyon (530 km) to Liege and Verviers near Liege were reported and in
the 1860s those pigeons managed flights from St. Sebastien in Spain
and Rome with a distance of more than 1000 km. Bungartz, a famous
German painter of animals, is also the author of an influential
German book on Racing Homers (1889). Following Baldamus he considers
the Carrier one of the eldest if not the eldest homing pigeon in the
world.
However, from the
very logic it should be mutually exclusive to believe that the
creation of the English Carrier is the greatest contribution of the
English pigeon fanciers in the modern age and at the same time that
the Carrier has served as the homing pigeon in the ancient world.
Bungartz also repeats Baldamus' erroneous statement about the weak
feathering that would hinder the Liege homer to manage great
distances. Interesting and diametric to all other information he
believes that the Liege Racing Homer, in the English literature
usually called Smerle, due to the owl ancestry and a rather short
beak needs foster parents. The beak was not as short as he believed
since from other writers it is well known that they were excellent
breeders. Tegetmeier (1871) incidental mentioned that he used Smerle
as foster parents for other breeds. Thus it is not a waste of time
to discuss the creation of the modern racing homer again, and this
time based on serious sources and not so much on speculations.
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