Carrier und Türkische Taube:
Identitätsdiebstahl (identity theft)
Taubenzüchter stellen gerne ihre eigene
Taubenrasse werbend in ein besonderes Licht. Phantasie schlägt dabei
oft Fakten. So mit Erfolg der Londoner Apotheker John Moore 1735,
Autor der ersten Monographie über Tauben und dadurch Einfluss auf
alle nachfolgenden Autoren.
Für Moore war der Carrier der 'König
der Tauben'. Das wurde offenbar von hochgestellten Persönlichkeiten
seiner Zeit geteilt. So nennt er Richard Atherton, dessen Familie
und deren Landbesitz in Lancashire auf die Zeit Heinrich I
(1100-1135) zurückgeführt werden. Atherton hatte geplant, auf seinem
Besitz Taubenschläge für die unterschiedlichen Rassen zu errichten,
ein Plan, der durch den frühen Tod 1726 nicht realisiert werden
konnte (S. viii). Von den Verehrern der Rasse nennt er den
Branntwein-Brenner Mr. Hickmann, der immer ein silbernes Beil und
einen Hackklotz bei sich gehabt habe, mit denen er die Tauben
köpfte. Denn, da die Carrier aus königlichem Blut seien, könnten sie
nicht auf dieselbe Weise wie andere sterben (S. 26).
Den Carrier als Botentauben des
Türkischen Reiches kannte man allerdings schon vor Moore. Willughby
hatte ihn 1678, auch aus eigener Anschauung, beschrieben. Er hätte
die Größe einer gewöhnlichen Taube, der Schnabel wäre nicht kurz,
sondern von moderater Länge, typisch seien die bewarzten Augenringe
und die Schnabelwarzen.
In diesem Gestalt sind sie auch bei
Frisch (1763) und Neumeister (1837) als Zeichnungen abgebildet.
Diese Taube habe als Botentaube im Türkischen Reich gedient.
Mit dieser in der Literatur
abgebildeten und vielfach identisch beschriebenen Taube hatte der
zur Schönheitstaube gewordene Carrier von Moore nichts zu tun.
Leider hat Moore keine Abbildungen gebracht, eine findet sich aber
kurz darauf 1765 in der Treatise. Gemein haben Carrier und der auf
Schönheit gezüchtete Carrier die stärkere Bewarzung, die beim
Englischen Carrier noch einmal deutlich zugenommen hat.
Quelle: o.V., Treatise von 1765, Sell,
Taubenrassen, Achim 2009
'König der Tauben' ist sein Carrier
allerdings nicht durch Abstammung geworden, sondern durch einen
Putsch. Wie auch Brent um 1860 vermutet, geht der Englische Carrier
auf Kreuzungen des Carriers von Willughby mit Französischen
Bagdetten zurück. Von Moore wurde dieses Kunstprodukt als neuer
'Carrier' inthronisiert, der die Legende der Türkischen Botentaube
für sich beanspruchte. Identitätsdiebstahl würde man das heute
nennen. Hatte der Carrier bei Willughby noch die Größe der
gewöhnlichen Taube, so gibt Moore stolz als Länge 15 inches von der
Schnabelspitze zum Schwanzende an (S. 25). Bei einer heutigen
Brieftaube sind es nur etwa 13 Inches. Die Länge des Schnabels hatte
sich mit 1,5 Inch oder 38,1 mm (S. 26) schon sehr weit von der
'moderaten' Länge Willughbys (bei einer Farbentaube 22-24 mm)
entfernt. Die Veränderungen können nicht durch Selektion aus der
Rasse heraus erklärt werden. Dragoon und Horseman, die Willughby
nicht als Rassen nannte, weil sie identisch mit seinem Carrier
gewesen sein dürften, werden von Moore als Kreuzungsprodukte
herabgewürdigt. Sonst hätte er die Existenz seines Carriers mit der
ihm angedichteten Legende auch nicht erklären können.
Bekannte Ornithologen wie Tegetmeier
(1868) versuchten die Dinge richtig zu stellen, aber ohne Erfolg:
"Der Gebrauch des Namens Carrier für diese Tauben sei bedauerlich,
da man keine Schau besuchen könne, ohne dass man jemanden sagen
höre, dass dieses die echte Botentaube sei" (S. 44). Auch der
bekannte Fachschriftsteller Fulton wendet sich 1876 vergeblich gegen
den Irrglauben.
Wichtige Literatur:
Fulton, R., The
Illustrated Book of Pigeons. London, Paris, New York and Melbourne
1876.
Moore, J., Pigeon-House.
Being an Introduction to Natural History of Tame
Pigeons. Columbarium: or the pigeon house, Printed for J. Wilford,
London 1735.
o.V., A Treatise
on Domestic Pigeons, London MDCCLXV (1765), Reprint Chicheley,
Buckinghamshire 1972.
Sell, Axel, Brieftauben und ihre
Verwandten, Achim 2014.
Sell, Axel,
Pigeon Genetics. Applied Genetics in the Dometic Pigeon, Achim 2012.
Sell, Axel, Taubenrassen.
Entstehung, Herkunft, Verwandtschaften.
Faszination Tauben durch die Jahrhunderte, Achim 2009.
Tegetmeier, W.B.,
Pigeons: their structure, varieties, habits and management, London
1868.
Willughby, Francis, The
Ornithology in Three Books. Translated into English, and enlarged
with many Additions throughout the whole work by John Ray, Fellow
of the Royal Society, London 1678.
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